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Bauwerkstypologie: Mauerturm
Der Bautypus des Mauerturms am Beispiel des Leonhardsturms in Alsfeld
Entspricht der Leonhardsturm in Alsfeld dem „typisch hessischen“ Bautypus des Mauerturms im 14. / 15. Jahrhundert?
Das Wort „Mauer“, welches bis heute noch als Synonym für die mittelalterliche Stadtbefestigung verwendet wird, beschreibt eine Grenze, welche die Stadt von ihrer Umgebung klar trennte. Vor allem Fremden, nicht dort ansässigen Stadtbürgern, wurde somit die Haltung zu ihnen deutlich gemacht. Sie mussten zu erst am Wächter vorbei. Ungewollte Fremde wurden teilweise nicht in die Stadt hinein gelassen oder sie mussten für den Einlass eine hohe Vergütung zahlen. Somit konnte gut kontrolliert werden, wer in die Stadt hineinkam. Aber auch in umgekehrter Richtung hatte die Stadtmauer ihre Aufgabe: So wie sie das Eintreten kontrollierte, kontrollierte sie auch das Verlassen. Bürgern, die negativ aufgefallen waren, konnte das Verlassen der Stadt untersagt werden. Zudem diente die Mauer natürlich als Schutz der Stadt und der in ihr lebenden Bürger vor militärischen Angriffen.
Neben der eigentlichen Mauer nahmen auch die Mauertürme eine wichtige Rolle im Stadtbild und der Stadtbefestigung ein. Bezogen auf den hessischen Raum lässt sich ein klarer Stil aufweisen, welcher als „typisch hessisch“1 bezeichnet wurde und besonders in Nordhessen weit verbreitet war. Unter den Begriff „typisch hessisch“ fallen die hohen, schlanken Rundtürme, meist mit einer auskragender Brustwehr, einer gemauerten Turmspitze, einem hochgelegenen Zugang mit Sturz-, Spitz- oder Stichbogen und einem umlaufenden Kranz mit Konsolen. Im Rhein-Main-Gebiet, sowie in der Wetterau, im Schiefergebierge und an der Bergstraße findet man „ein deutlich abweichendes Erscheinungsbild“, welches Thomas Biller als mittelrheinisch-pfälzisch betitelt2. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass im 14./ 15. Jahrhundert die vollrunden Türme ein typologisches Merkmal für Hessen waren. Sie galten als „die besonderen Türme“, denn rechteckige Türme kamen in Hessen selten vor und standen, wenn vorhanden, neben den Rundtürmen.3
Bild [1]: Leonhardsturm in Alsfeld [+]
Der Leonhardsturm in Alsfeld (siehe Abb. [3]) ist ein Rundturm. Er steht neben dem ehemaligen Fulder Tor am Rand der südlichen Altstadt und ist das einzig erhaltene Bauwerk der Stadt, das an die frühere Befestigungsanlage erinnert (siehe Nr. 8 in Abb. [2])4. Aufgrund seines Standortes wurde er zur damaligen Zeit auch „Fulderturm“5 genannt. Neben ihm gab es damals noch den auf die Stadtbefestigung gesetzten Pulverturm (späterer Luther-Turm), den deutlich kleineren Rundturm der „Hundsturm“, und das Mainzer Tor6.
Bild [2]: Zeichnung der Stadtbefestigung mit dem Pulvertrum, Hundsturm, Mainer Tor und Leonhardsturm [+]
Üblicherweise waren die Rundtürme mittig in die Mauer gesetzt, dass sie Innen und Außen gleichermaßen herausstanden. Auf dieses Merkmal lässt zwar die Zeichnung der Stadtbefestigung von Alsfeld schließen (siehe Abb. [2]), dieser steht aber ein widersprüchlicher Stadtplan entgegen, bei welchem der Turm vor der Mauer steht (siehe Abb. [3]). Eindeutige Lageplandarstellungen von Mauer und Turm um die genaue Position zu bestimmten, liegen nicht vor. Am heutigen Zustand des Turmes lassen sich allerdings keine baulichen Merkmale einer angrenzenden Mauer ablesen, daraus kann die Aussage getroffen werden, dass der Leonhardsturm, großer Wahrscheinlichkeit nach vor der Mauer stand. Anzunehmen ist aber auch, dass die Mauer zum Turm hin leicht abgeknickt war und der Leonhardsturm, zwar nicht mittig saß aber dennoch in die Verteidigungsmauer mit eingebunden war (siehe Abb. [4]).
Bild [3]: Lageplan der Mauer und der Türme. [+]
Legende Lageplan:
Nr. 7 = Mainzer Tor
Nr. 8 = Leonhardsturm
Nr. 9 = Fulder Tor
Nr. 13 = Pulverturm
Nr. 14 = Hundsturm
Bild [4]: Rekonstruktion der Altstadtsituation im 17. Jahrhunder [+]
Bild [4.1]: Rekonstruktion der Altstadt (Ausschnitt) |
Bei der Wahl der Maße (Höhe und Breite) wurde im 14. Jahrhundert darauf Acht gegeben, dass eine „schlanke, gotische Proportion“ entsteht7. Mit einer Höhe von 27,46 Meter und einem Durchmesser von 8,40 Meter (und einer Wandstärke von 2,40 Meter) entspricht der Leonhardsturm der damaligen gestalterischen Vorstellung.8 Auffällig ist aber der breite Durchmesser, denn der häufig vorkommende und weitverbreitete Mittelwert liegt hierfür bei 5 bis 6 Meter. Dickere Türme waren meist ein Indiz auf eine für die Region wichtige Stadt.9
Bild [5]: „Druselturm“ in Kassel mit einem Durchmesser von 9,20 Meter. [+]
Die aus Bruchstein erhaltene Turmmauer wird durch einige kleine Lichtluken durchbrochen. Da der Leonhardsturm vermutlich primär zu Verteidigungszwecken diente, waren die Luken nicht nur da, um dem enge Treppenhaus Licht zu schenken, sondern wie üblich in Angriffsfällen als Schießscharten zu fungieren. Scharten, die seitlich angeordnet waren, boten die Möglichkeit die Angreifer von der Seite, aus der Deckung heraus „effektiver zu beschießen“10. Zudem lieferten die kleinen „Löcher“ wenig Angriffsfläche und somit eine gute Deckung der eigenen Schützen. Bei Türmen die als Verteidigungsanlage genutzt wurden, liegt die Vermutung nahe, dass die Innenräume keiner weiteren Nutzung dienten. Sie wurden möglicherweise von den Verteidigern als Aufenthaltsraum
genutzt oder dienten der Aufbewahrung der Waffen11. Selten ist dies aber überliefert. Die auskragende, mit Zinnen bewehrte Brustwehr, diente ebenfalls der Verteidigung. Das Auskragen der Brustwehr ist auch in Hessen häufig an Türmen aufzufinden, so auch in Seligenstadt und Grebenstein (siehe Abb. [6]).12
Bild [6]: Pulvertrum in Seligenstadt [+] |
Bild [7]: Turm am Haupttor in Grebenstein [+] |
Bild [8]: Turmspitze Leonhardsturm [+]
Gemauerte Turmspitzen, wie die des Leonhardsturms, dienten vornehmlich im hessischen Raum der Ästhetik (Abb. [8]).13 Wiederzufinden ist eine solche Turmspitze auch beim Pulverturm in Seligenstadt (siehe Abb [6]). Ein weiteres Zierelement ist eine Inschrift im gotischen Stil, welche das Baujahr des Turmes datiert. „Anno domini mccclxxxvi in die snt. Marci inceptum“, übersetzt lautet es: Im Jahre des Herrn 1386 auf den Tag St. Markus angefangen.14 Mit dem „Tag St. Markus“ ist der 25. April gemeint. Zu finden ist die Inschrift auf dem steinernen Spitzbogen über der Eingangspforte (siehe Abb. [9]).
Bild [9]: Tür mit Spitzbogen [+] | Bild [10]: „Diebsturm“ in Allendorf [+] |
Diese spitzbogenförmige Eingangspforte ist die einzige Möglichkeit, den Turm zu erschließen. Die Tür liegt auf der Höhe des ehemaligen Wehrganges. Dies ist ein weiteres Merkmal, dass dem hessischen Baustil entspricht.15 Zugänge auf Straßenniveau galten zu der Zeit als Ausnahme. Der historische Zugang zur Pforte wurde entweder durch eine Leiter gewährleistet oder durch eine Holztreppe ermöglicht. Der Wehrgang führte über einen Holzsteg am Turm entlang vorbei (siehe Abb. [11]). Dieser Umgang beruht auf einem konstruktiven Grund, da zwei Pforten in einem schlanken Rundturm das Mauerwerk deutlich geschwächt hätten.16 Da die hohen, schlanken Rundtürme in Hessen weit verbreitet waren, entwickelte sich der umlaufende Steg als charakteristisches Merkmal der hessischen Stadtbefestigung. Getragen wurde der Umgang meist von vorkragenden Konsolen aus Stein.17 Dies ist auch sehr gut bei dem „Diebsturm“ in Allendorf (Abb. [10]) und dem „Druselturm“ in Kassel zu erkennen (Abb. [5]).
Bild [11]: Skizze der Ansicht des Leonhardturmes mit Wehrgang, Stadtinnenseite [+]
Aufgrund ihrer Geometrie, ihrer reduzierten Gestaltung im Innenraum und ihrer defensiven Funktion wurden Türme im deutschen Raum selten zum Wohnen genutzt. Lediglich zur „Verwahrung von Menschen“. Eine weitere Funktion der Türme war es nämlich, Gefangene zu verwahren. Auch speziell für diese Aufgabe gab es erbaute Türme, die meist mit mehreren Zellen versehen waren und eine Wächterwohnung in der Nähe besaßen. Da solche Zellen beim Leonhardsturm nicht vorzufinden sind, kann man daraus schließen, dass er kein reiner Gefängnisturm war. Thomas Biller vermutet, dass in Hessen Türme mit einem hohen kuppelgewölbten Untergeschoss häufig vorkamen.18 Schaut man sich den Schnitt vom Leonhardsturm an, lässt sich deutlich ablesen, dass das Untergeschoss bzw. Erdgeschoss eine hohe Raumhöhe besitzt und gewölbt ist. Dies lässt darauf schließen, dass in dem Turm ein Verlies untergebracht war. Auch in Herbert Jäckels Artikel „Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld“ wird die Nutzung als Verlies des Öfteren genannt.19 Nach Eintritt in den Turm auf einer Höhe von 6,90 Meter über dem Geländeniveau und drei weiteren Stufen, die nach oben führen, befindet man sich auf dem gemauerten Gewölbe des darunterliegenden Verlieses. In der Deckenmitte befindet sich ein kleine Öffnung mit einem Durchmesser von 55 Zentimeter, welche zur damalig Zeit noch mit einem „eisernen Röstlein“ verschlossen war. Das Verlies selbst hat eine Raumhöhe von ca. 7 Meter und eine Wandstärke von 4 Meter (siehe Abb. [12]).20 Schon alleine die Proportionen des Raumes machten einen Versuch des Ausbruches unmöglich. Zudem gibt es keine Fenster oder andere Lichtquellen bis auf das kleine Loch in der Gewölbedecke, welches auch als einziger Zugang zum Verlies diente. In dieses „dunkle Loch“ kamen die Gefangenen, die „um Leib und Leben zur Haft gezogen werden“.21 Der Gebrauch des Turmes als ein Verlies wird durch die eigens dafür erfundene Haspel22 untermauert. Die Haspel ist ein 1,60 Meter hohes und 1,20 Meter breites Holzgestell mit einer Holzwelle, auf der eine Kette aufgerollt ist und einer Handkurbel. Mit Hilfe dieser Erfindung ließ man die Gefangenen durch das 55 Zentimeter schmale Loch hinunter in das Verlies. Zu finden ist die Haspel heute noch im Regionalmuseum von Alsfeld. Verbrecher, die die „Leviora“, ein leichtes, harmloses Vergehen, begannen hatten, wurden - so vermutet man - im oberen Teil des Turmes untergebracht.23
Bild [12]: Skizze eines Schnittes und Grundriss [+]
Die schlanke, gotische Form des Turmes, die auskragende Brustwehr, die gemauerte Turmspitze und die Inschrift in gotischem Stil als Zierelemente, die auf ein höheres Niveau gesetzte spitzbogenförmige Eingangspforte und das kuppelgewölbte Untergeschoss, sind Merkmale, welche nach Thomas Biller einen typisch hessischen Mauerturm ausmachen. Aufgrund dieser übereinstimmenden Eigenschaften kann man auch den Leonhardsturm zu solch einem typisch hessischen Turm zählen. Die Abweichungen, wie die nicht mittig gesetzte Position des Turmes in die Mauer und des ungewöhnlich großen Durchmessers, 8,60 Meter, lassen sich vermutlich den regionalen Einflüssen zuschreiben.
Zu der richtigen Lage des Turmes und der korrekten Zugangssituation, ob umlaufender Wehrgang oder Holztreppe, kann ich aufgrund mangelhafter Informationen keine richtige Aussage treffen. Da der Leonhardsturm das einzig erhaltene Bauwerk der Stadt Alsfeld ist, das an die frühere Befestigungsmauer erinnert, steht er heute unter Denkmalschutz.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Mittleiungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld. Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld - Herbert Jäkel
Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Systematischer Teil – Thomas Biller
Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Topographischer Teil – Thomas Biller
Stadt Alsfeld, http://www.alsfeld.de/?cmd=03_04_09 (Stand: 20.10.2016)
Landesamt für Denkmalpflege in Hessen, http://denkxweb.denkmalpflege-hessen.de/12214/ (Stand: 20.10.2016)
Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis
1 Thomas Biller. Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Topographischer Teil – S. 175 - 184
2 ebd. – S. 175, 20. Hessen, 1. Absatz
3 ebd. - S. 185, 20. Hessen, 3. Absatz
4 http://www.alsfeld.de/?cmd=03_04_09
5 Mittelalterliche Umgangssprache für „Leonhardsturm“
6 Mittleiungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld. Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld. Herbert Jäkel – S. 148-149
7 Thomas Biller. Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Topographischer Teil – S. 182, 20. Hessen, 3. Absatz
8 Mittleiungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld. Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld. Herbert Jäkel – S. 182, 6. Absatz
9 Thomas Biller. Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Topographischer Teil – S. 182, 20. Hessen, 3. Absatz
10 ebd. – S. 92
11 ebd. – S. 95
12 ebd. – S. 183, 20. Hessen, 2. Absatz
13 ebd. – S. 183, 20. Hessen, 2. Absatz
14 Mittleiungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld. Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld. Herbert Jäkel – S. 148, 1. Der Fuldertrun, 4. Absatz
15 Thomas Biller. Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch. Topographischer Teil – S. 182, 20. Hessen, 5. Absatz
16 ebd. – S. 96-97
17 ebd. – S. 182, 20. Hessen, 5. Absatz
18 ebd. – S. 182, 20. Hessen, 3. Absatz
19 Mittleiungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld. Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld. Herbert Jäkel – S. 148, S. 182, S. 184
20 ebd. – S. 182, 7. Absatz
21 ebd. – S. 148, 1. Der Fuldertrun, 2. Absatz
22 ebd. – S. 184, 1. Absatz
23 ebd. – S. 148, 1. Der Fuldertrun, 2. Absatz
Bild [1]: Leonhardsturm in Alsfeld, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/29/Alsfeld_-_Leonhardsturm.jpg (Stand: 11.01.2017)
Bild [5]: Druselturm, Kassel - Fotoarchiv Marburg, http://www.bildindex.de/document/obj20162463 (Stand: 29.10.2016)
Bild [6]: Pulvertrum, Seligenstadt - Fotoarchiv Marburg, http://www.bildindex.de/document/obj20246976?medium=fmd457860 (Stand: 29.10.2016)
Turm am Haupttor, Grebenstein – Fotoarchiv Marburg, http://www.bildindex.de/document/obj20266623?part=3&medium=fm1504539 (Stand: 29.10.2016)
Bild [10]: Diebsturm, Allendorf – Fotoarchiv Marburg, http://www.bildindex.de/document/obj20043444?part=0&medium=fm1520595 (Stand: 29.10.2016)
Bild [2], Bild [3], Bild [4], Bild [4.1], Bild [7], Bild [8], Bild [9] und Bild [11]: Die Aufnahmen und Repros stammen aus dem Bildarchiv des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld e. V., von H. Jäkel, R. Kaus, I. Mengel, B. Runte und Th. Zabel
Zitiervorschlag:
Rauch, Sarina (2017): „Der Bautypus des Mauerturms am Beispiel des Leonhardsturms in Alsfeld“; urbs-mediaevalis.de/Studienportal/Gebäudetypologie; URL: http://www.urbs-mediaevalis.de/pages/studienportal/gebaeudetypologie/wehrbauten/mauerturm.php
letzte Aktualisierung dieser Seite: 22. März 2017 Autorin(nen) oder Autor(en): Sarina Rauch : PDF |