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Bauteiltypologie: Strebewerk

Strebewerk

Statisches System aus Strebepfeiler und Strebebogen zur Lastabtragung von Gewölbe- und Winddruck sowie zur Abstützung der Hochschiffwände

Das Streben nach Höhe ist kennzeichnend für die gotische Architektur. Ebenso wie das Auflösen der massiven Wand, um Platz für große Fensterflächen zu schaffen, die den Kirchenraum erstrahlen lassen.

„Die spezifisch gotische Lösung liegt darin, dass alle Stützpunkte für die Wand nach außen verlegt sind, […] Der technische Apparat, den die Gotik hierfür entwickelt, wird als bezeichnet.“ 1

Das Strebewerk ist ein statisches System, das sich in Strebepfeiler und Strebebogen unterteilen lässt und zur Lastabtragung der Kräfte beiträgt. Außerdem ist das Strebewerk ein Teil der Travée (auch Joch oder Gewölbefeld), zu dem noch die Gurtbögen, die Kreuzrippen und die Gewölbekappen über Mittel- und Seitenschiffen gehören und gemeinsam ein statisches Gefüge bilden. 2

 Bild [1]: Isometrie des Strebewerks von der Kathedrale in Amiens
Bild [1]: Isometrie des Strebewerks von der Kathedrale in Amiens [+]

Bild [2]: Skizze zum Kräfteverhältnis innerhalb des Strebewerks
Bild [2]: Skizze zum Kräfteverhältnis innerhalb des Strebewerks 3, 4 [+]


Die Schubkraft aus den Gewölben drückt schräg gegen die Hochschiffspfeiler, die ohne den Gegendruck der Strebebögen, einstürzen würden. Das Entgegenwirken der beiden diagonal verlaufenden Kräfte hebt ihre Kraftrichtungen auf, sodass der resultierende Kräfteverlauf vertikal im Pfeilerkern gehalten werden kann. Dies ermöglicht es die Pfeiler trotz der enormen Höhen so schlank auszugestalten. 5

Der Strebebogen dient dem Weiterleiten des Gewölbe- und Winddrucks, letzterer nimmt aufgrund der ansteigenden Windgeschwindigkeit mit der Höhe zu. 6 Der Kräfteverlauf aus beiden Faktoren entspricht einer Parabelkurve, die bei Windstille steil ist, jedoch bei Windeinwirkung flacher wird (siehe Abb. 2). Dann sind zwei Strebebögen notwendig, um den auftretenden Horizontalschub widerstehen zu können. 7 Der untere Strebebogen, der in Höhe des Obergadens ansetzt, leitet überwiegend den Gewölbeschub weiter. Der obere, der an der Traufe beginnt, ist wegen des Winddrucks angebracht worden. 8, 9

Im Strebepfeiler, der das Widerlager ist, läuft die Parabelkurve annähernd vertikal aus und trägt die Kräfte über sein Fundament ins Erdreich ab. Die Baumeister gingen dazu über den Strebepfeiler abzutreppen, um Abplatzungen zu vermeiden, was „im Grunde eine Umbauung der parabolischen Druckkurve“ 10 ist.

Das Strebewerk hat sich schrittweise aus der Weitergabe von Erfahrungswerten über den Kräfteverlauf in der Travée entwickelt 11 und sich von der reinen Zweckform hin zur Kunstform gewandelt, die „die Wirkung des Außenbaus der Kathedrale mitbestimmt“ 12.
Eine Vorform der Druckableitung ist in den Emporenkirchen zu finden, bei denen sich unter den Emporendächern Mauern oder Mauerbögen versteckt über den Gurtbögen der Seitenschiffgewölbe spannen. 13 Beispiele sind die Kathedrale von Durham oder die Vorkirche von Saint-Marie-Madeleine in
Vézelay (siehe Abb. 3)

Die Strebebögen werden ab 1160 bei Chören (Saint Germain des Pres in Paris) und ab 1180 beim Langhaus (Notre Dame in Paris) frei sichtbar oberhalb der Dachflächen angewendet. Anfänglich werden die Strebebögen nachträglich hinzugefügt, um die unterschätzten Krafteinwirkungen des Windes abzuleiten. 14

 

Bild [3]: Sainte-Marie-Madeleine   In Abb. 3 ist der Schnitt durch die Vorkirche zu sehen, der gestrichelt den dahinter anschließenden Kirchensaal andeutet. An Saint Marie-Madeleine lassen sich beide Gestaltungsformen ablesen. Die Vorkirche ist niedriger als der Kirchensaal, weswegen hier mit Mauerbögen unterhalb der Emporendächer gearbeitet wurde.Das Langhaus des Kirchensaals ist wesentlich höher und benötigt ein Strebewerk, das den hohen Kirchenraum abstützt.
Bild [3]: Schnitt durch die Vorkirche von Saint-Marie-Madeleine in Vézelay [+]
 

 

Das offene Strebewerk breitet sich von Nordfrankreich nach England und Deutschland aus. In Südfrankreich und den anderen Mittelmeerländern wurde diese Bauform nur selten verwendet. 15
In der Hochgotik wurde die Massivität des Apparats mehr und mehr aufgelöst und mittels Schmuckformen, wie beispielsweise Maßwerk und Fialen, filigraner ausgestaltet. 16 Zu der Kathedrale Saint-Étienne in Bourges schreiben Mark und Clark:

„Weil die Strebebögen steil verlaufen, leiten sie die horizontalen Belastungen […] unmittelbar auf die Fundamente ab, und daher konnte das gesamte Stützsystem leichter gebaut werden. Die Untersuchungen am Modell haben ergeben, dass trotz der extremen Leichtigkeit die Höchstbelastung im Chor von Bourges nur halb bis ein Drittel so groß ist wie die in anderen großen gotischen Kirchen.“ 17

 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Adamy, Rudolf (1889): Architektonik des gothischen Stils. Hannover: Helwing'sche Verlagsbuchhandlung.

Binding, Günther (1995): Beiträge zum Gotik-Verständnis. Köln: Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln (Veröffentlichungen der Abteilung Kunstgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln, Bd. 53).

Binding, Günther (1999): Hochgotik. Die Zeit der großen Kathedralen. Köln: Benedikt Taschen.

Binding, Günther (2000): Was ist Gotik? - Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Jantzen, Hans (1987): Kunst der Gotik. Klassische Kathedralen Frankreichs. Neuausgabe. Berlin: Reimer.

Kimpel, Dieter; Suckale, Robert (1985): Die gotische Architektur in Frankreich. 1130-1270. München: Hirmer.

Mark, Robert; Clark, William W. (1985): Architektur in der Gotik. In: Spektrum der Wissenschaft 1985. H. 1, S. 122–130.

Sedlmayr, Hans (1976): Die Entstehung der Kathedrale. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt.

Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel (1854-68): Dictionnaire raisonné de l'architecture française du XIe au XVIe siècle. 2. Aufl. Paris: Libr.-Impr. Réunies.


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

1 Jantzen 1987, S. 85
2 Binding 2000, S. 107
3 Kimpel, Suckale 1985, S.40, Abb.33
4 Mark, Clark 1985, S.124, Abb. 2
5 Kimpel, Suckale 1985, S.43
6 Mark, Clark 1985, S.122
7 Kimpel, Suckale 1985, S.43
8 Binding 1999, S.122
9 Mark, Clark 1985, S.127
10 Kimpel, Suckale 1985, S.43
11 Binding 1995, S.177
12 Jantzen 1987, S.85
13 Jantzen 1987, S.85
14 Mark, Clark 1985, S.122
15 Binding 2000, S.107
16 Sedlmayr 1976, S. 71
17 Mark, Clark 1985, S.128

Bild [1] : Viollet-le-Duc (1854-68), S. 203 Abb. 35 oder online zugänglich:
URL: http://meta.wikimedia.org/wiki/File:Coupe.nef.cathedrale.Amiens.png (Stand: 23.05.2014)
Beschriftung: Jessica Roscher
Bild [2]: Zeichnung: Jessica Roscher in Anlehnung an:
Kimpel, Suckale 1985, S.40, Abb.33
Mark, Clark (1985), S.124, Abb. 2
Bild [3]: Viollet-le-Duc (1854-68), S. 185 Abb. 22

 

Zitiervorschlag:
Roscher, Jessica (2014): „Strebewerk“, in: urbs-mediaevalis.de/Studienportal/Bauteiltypologie, URL:<http://www.urbs-mediaevalis.de/pages/studienportal/bauteiltypologie/bauteile-s/strebewerk.php>

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 3. Juni 2014
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Jessica Roscher JR01-001 : PDF

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