8.3.2.1 Fenster
Das einfache, tief gekehlte und abgefaste Laibungsprofil der Fenster entspricht dem im südlichen Seitenschiff, das Stabwerk ist leicht gekehlt. Die Bahnen der Fenster enden in genasten Spitzbogen. Die Schenkel der Nasen sind in der Mitte nahe zusammengeführt, die Nasen fast stachelig von der Bahn abgegrenzt, ein deutlicher Hinweis auf eine späte Form des Maßwerks.262 Die Leitform im Couronnement aller nördlichen Seitenschiffsfenster ist der Kreis. Er ist mit verschiedenen Formen gefüllt, während die Zwickel immer frei bleiben.
Das Fenster im östlichen Joch zeigt im Kreis des Couronnements fünf genaste Spitzbögen (Abb. 210). Sie sind so aneinandergefügt, dass sie die gesamte Kreisfläche ausfüllen, der jeweils äußere Schenkel jedes Bogens ist mit dem Kreisbogen identisch. Die Achsen der genasten Lanzetten bewegen sich daher nicht speichenförmig von der Mitte aus, sondern die Achsbezüge sind willkürlich.
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Abb. 210: Walpurgiskirche, Nordseitenschiff, östliches Fenster [+] |
Die beiden mittleren Fenster füllen den Kreis mit Varianten von Bogendreiecken mit eingeschriebenen Dreiblättern (Abb. 211 und 212) und scheinen daher stilistisch nicht weit entfernt von den Fenstern der Südseite. Allerdings sind auf der Nordseite nicht nur die Nasen der Lanzetten stacheliger, auch die Dreiblätter sind weniger offen, die Schenkel ihrer Blätter weiter zur Mitte geführt, was für eine spätere Datierung der Nordseite spricht.
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Abb. 211: Walpurgiskirche, Nordseitenschiff, 2. Fenster von Osten [+] |
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Abb. 212: Walpurgiskirche, Nordseitenschiff, 3. Fenster von Osten [+] |
Im Kreis des dritten Fensters von Osten strecken vier Bogendreiecke mit eingeschriebenen Dreiblättern ihre Spitzen zur Mitte. Das gleiche Motiv findet sich im 1354 vollendeten nördlichen Querschiff des Frankfurter Domes (Abb. 213).263 In Frankfurt wie in Alsfeld scheinen die Schenkel der Dreiecke in der Kreismitte verschmolzen. Am Chor der Pfarrkirche von Geißnidda, dessen Bau 1367 beendet war,264 sind die Dreipässe weniger zusammengewachsen (Abb. 214). Die geschlossenere Binnenform der Alsfelder Dreiblätter ist jedoch eher mit Geißnidda als mit der Frankfurter Bartholomäuskirche vergleichbar.
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Abb. 213: Frankfurt, St. Bartholomäus, Fenster am nördlichen Querschiff [+] |
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Abb. 214: Geißnidda, Pfarrkirche, Chorfenster [+] |
Im westlichen Fenster des Nordseitenschiffes treten modernere Maßwerkformen auf. An den äußeren Kreisradius schließen drei Bogenvierecke mit eingeschriebenen Vierblättern im Wechsel mit schaufelförmig abstrakt aus der Fischblase abgeleiteten Formen. Das Zentrum des Kreises bilden drei verwirbelnde Formen, die an Rhomben erinnern (Abb. 215).
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Abb. 215: Walpurgiskirche, Nordseitenschiff, westliches Fenster [+] |
Das Fenster kann auf parlerische Vorbilder zurückgeführt werden. Ein Maßwerk am Strebepfeiler über der Wenzels- und Andreaskapelle des Prager Veitsdomes (Abb. 216) zeigt ein mit Fischblasen und Bogendreiecken gefülltes Bogenviereck. Behling gebraucht eine treffende Metapher: Die Fischblasen „beginnen zu schwimmen, brechen sich aber noch an den sphärischen Dreiecken als Stromschnellen“.265
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Abb. 216: Prag, Veitsdom, Maßwerk am Strebepfeiler über der Wenzel- und Andreaskapelle [+] |
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Abb. 217: Erfurt, Barfüßerkirche, Westfenster [+] |
Einen ähnlichen Formenapparat zeigt das um 1370 entstandene Westfenster der Barfüßerkirche in Erfurt, dessen Maßwerk allerdings im 19. Jahrhundert erneuert wurde (Abb. 217).266 Wie in Alsfeld hat die Fensterlaibung die Form einer abgefasten Hohlkehle. In Erfurt heben sich die Bogenvierecke leicht vom Kreisradius ab. Im Zentrum steht ein kleiner Kreis mit eingeschriebenem Dreiblatt, der von zwei konzentrischen Kreisen umgeben wird. Diese werden durch die Bogenvierecke in je drei Teile geteilt. Den Kreissegmenten sind Nasen eingeschrieben, wodurch die Illusion einer kreisförmigen Bewegung entsteht, die durch die Bogenvierecke unterbrochen wird.
Die parlerischen Formen könnten über Erfurt nach Alsfeld vermittelt worden sein, für das Fenster im westlichen Joch des Alsfelder Nordseitenschiffes ergäbe sich damit eine Entstehungszeit im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts.
Die mittleren Fenster folgen wohl eher regionalen Traditionen. Eine scharfe Trennung zwischen den Maßwerkformen der Fenster soll jedoch nicht erfolgen, auch parlerische Formen beziehen sich oft auf klassische Maßwerkformen zurück. Der gleichbleibende Querschnitt der Stege aller vier Fenster gibt einen Hinweis auf die Einheitlichkeit der Baumaßnahme.267
Literatur- und Quellenverzeichnis
Behling 1944. Behling, Lottlisa: Gestalt und Geschichte des Maßwerks, Halle 1944 (Die Gestalt, Bd. 16)
Haetge 1931. Die Stadt Erfurt. Allerheiligenkirche, Andreaskirche, Augustinerkirche, Barfüsserkirche, bearb. von Ernst Haetge, Burg 1931 (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, Bd. 2,1)
Hampel 1994. Hampel, Andrea: Der Kaiserdom zu Frankfurt am Main. Ausgrabungen 1991-93, Nußloch 1994 (Beiträge zum Denkmalschutz in Frankfurt am Main, Bd. 8)
Kögler 1992. Kögler, Johannes: Die evangelische Pfarrkirche von Geiß-Nidda, in: Wetterauer Geschichtsblätter, 41, 1992, S. 5-45
Schurr 2003. Schurr, Marc C.: Die Baukunst Peter Parlers. Der Prager Veitsdom, das Heiligkreuzmünster in Schwäbisch Gmünd und die Bartholomäuskirche zu Kolin im Spannungsfeld von Kunst und Geschichte, Ostfildern 2003
Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis
262 Man vergleiche etwa die Chorfenster des Erfurter Domes aus dem 3. Viertel des 14. Jahrhunderts.
263 Hampel 1994, S. 90
264 Kögler 1992, S. 31
265 Behling 1944, S. 47
266 Haetge 1931, S. 164-165
267 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dethard von Winterfeld.
Abb. 210-215: Schmelz, Annette 2008
Abb. 216: Schurr 2003
Abb. 217: Haetge 1931
Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche Alsfeld“, in: www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php
letzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en): Schmelz, Annette PDF |