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8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.2.1.2 Schlusssteine

 
Die Schlusssteine im südlichen Seitenschiff nehmen das gekehlte Profil der Rippen auf. Drei der Schlusssteine zeigen Blattformen, wobei von Westen nach Osten eine fortlaufende Abstrahierung bis hin zur geometrischen Form erkennbar ist. Auf dem westlichen Schlussstein sind vier längliche Blätter zu sehen. Ihre Stängel sind in der Mitte zusammengeknotet, die großen, gefiederten Blätter schmiegen sich dem Rand des Schlusssteines an (Abb. 185). Das Motiv tritt recht häufig auf,233 für einen Vergleich ist daher die genaue Form der Blätter von Bedeutung. Jedes der recht flach gehaltenen, großen Blätter scheint aus sieben lanzettförmigen Einzelblättchen zu bestehen, deren mittlere Blattader deutlich herausgearbeitet ist.
 
 
Abb. 185: Walpurgiskirche, Südseitenschiff, 1. Schlussstein von Westen [+]   Abb. 186: Mainz, St. Stephan, Schlussstein, heute im Kreuzgang liegend [+]

 

Im Kreuzgang der katholischen Stifts- und Pfarrkirche St. Peter in Fritzlar, des sogenannten Domes, findet sich in der Südwestecke ein Schlussstein, dessen drei Blätter zwar wellig bewegt sind, aber genau die gleichen lanzettförmigen Strukturen zeigen (Abb. 187). Ein weiterer Schlussstein im Kreuzgang bildet vier flache Blätter ab, die aus jeweils sieben Blattfingern bestehen (Abb. 188). Das gleiche Motiv findet sich auf einem Schlussstein  im Mittelschiff  der Minoritenkirche in Fritzlar (Abb. 189).

   
Abb. 187: Fritzlar, Dom, Schlussstein im Kreuzgang [+]   Abb. 188: Fritzlar, Dom, Schlussstein im Kreuzgang [+]   Abb. 189: Fritzlar, Minoritenkirche, Schlussstein im Langhaus [+]

 

Auf dem zweiten Schlussstein von Westen in Alsfeld sind vier ornamental aufgefasste Blätter mit dreieckiger Grundform radial nach innen ausgerichtet (Abb. 190). Sie sind ebenfalls sehr flach, nur an den Blattadern erkennt man kleine Verdickungen. Auch dieses Motiv findet sich sowohl im Kreuzgang des Fritzlarer Domes (Abb. 191) als auch in der dortigen Minoritenkirche in Haupt- und Seitenschiff (Abb. 192).
 
   
Abb. 190: Walpurgiskirche, Südseitenschiff, 2. Schlussstein von Westen [+]   Abb. 191: Fritzlar, Dom, Schlussstein im Kreuzgang [+]   Abb. 192: Fritzlar, Minoritenkirche, Schlussstein im Langhaus [+]

 

Auf dem Alsfelder Schlussstein im dritten Joch von Westen sind drei Fische spiralförmig angeordnet. Ihre Köpfe treffen sich im Zentrum des Schlusssteines (Abb. 193). Auch dieses seltene Motiv findet sich auf einem Schlussstein im Südflügel des Fritzlarer Kreuzganges (Abb. 194). In Fritzlar sind die Fische anatomisch korrekt dargestellt. Ihre Leiber schmiegen sich in einer eleganten Krümmung dem Rand des Schlusssteines an. Die drei Fische haben einen gemeinsamen Kopf. Diese Besonderheit ist dem Alsfelder Steinmetzen wohl entgangen. Er versucht, auf gleichem Raum drei Köpfe unterzubringen, mit dem Ergebnis, dass die Fische disproportionierte, spitze Köpfe bekommen.
 
 
Abb. 193: Walpurgiskirche, Südseitenschiff, 3. Schlussstein von Westen [+]   Abb. 194: Fritzlar, Dom, Schlussstein im Kreuzgang [+]

 

Auf dem östlichen Schlussstein schließlich gruppieren sich acht Dreiblätter um ein zentrales Vierblatt (Abb. 195). Die verbindenden Stängel sind paarig angeordnet und kaum noch als organische Form zu erkennen. Die Formen sind geometrisch, die Blätter mit abstrakten Motiven aus Haken und Punkten geziert. Es verwundert nicht, dass auch dieses Motiv auf Schlusssteinen in Fritzlar sein Vorbild findet. Während ein Schlussstein im Kreuzgang des Fritzlarer Domes das Thema noch floral interpretiert mit einer deutlich erkennbaren vierblättrigen Blüte und leicht unregelmäßigen und gewölbten Blättern (Abb. 196), zeigt ein Schlussstein im Langhaus der Minoritenkirche bereits den gleichen Grad der Abstraktion, den man auch in Alsfeld beobachten kann (Abb. 197), auch das Muster aus Punkten und Haken ist das gleiche.
 
   
Abb. 195: Walpurgiskirche, Südseitenschiff, östlicher Schlussstein [+]   Abb. 196: Fritzlar, Dom, Schlussstein im Kreuzgang [+]   Abb. 197: Fritzlar, Minoritenkirche, Schlussstein im Langhaus [+]

 

In der Fritzlarer Minoritenkirche weisen Rippen und Gurte des vierteiligen Kreuzrippengewölbes unterschiedslos das gleiche, beidseitig gekehlte Profil auf, die Schlusssteine sind  durch eine abschließende Kehle profiliert. Nicht nur die Motive der Schlusssteine, auch die Profile und das Wölbungssystem scheinen in Alsfeld adaptiert worden zu sein.
 
Abb. 198: Fritzlar, Minoritenkirche, Grundriss von Ellwardt [+]
 

Aber nicht nur Einzelformen des Alsfelder südlichen Seitenschiffes verdanken sich Fritzlarer Vorlagen, sondern der gesamte Umbau folgt dem Vorbild der Minoriten-kirche. Auch in Fritzlar schließt ein vierjochiges südliches Seitenschiff mit fast quadratischen Jochen an das Langhaus mit seinen querrechteckigen Jochen an (Abb. 198). Die Joche des Seitenschiffes sind in Fritzlar wie in Alsfeld einzeln überdacht, in Fritzlar mit vier abgewalmten Zwerchdächern (Abb. 199).234
 
 
 
Abb. 199: Fritzlar, Minoritenkirche, Südfront [+]   Abb. 200: Fritzlar, Minoritenkirche, Südfront, aquarellierte Bleistiftzeichnung, vor
1829 [+]
 
 
Eine so enge Verbindung zwischen der Alsfelder Walpurgiskirche und dem Dom und der Minoritenkirche in Fritzlar ist bisher von der Forschung nicht erkannt worden. Leider ist die Datierung des Domkreuzganges umstritten. Humbach datiert ihn in seiner Dissertation aufgrund stilistischer Merkmale in Verbindung mit einem Ablass 1274 sehr vorsichtig und eher versuchsweise auf das Ende des 13., Anfang des 14. Jahrhunderts.235 Auch er konstatiert die Ähnlichkeit von Formen des Kreuzganges und der Minoritenkirche, die „mangels genauer Daten stilistisch zumeist in das frühe 14. Jahrhundert datiert“ wird.236 Der neuesten Literatur zufolge wurde die Kirche 1325 fertiggestellt.237

Ausgehend von dieser frühen Datierung des Domkreuzganges und der Minoritenkirche wäre es durchaus möglich, dass die Umbaumaßnahmen am Alsfelder Seitenschiff bereits in den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts einsetzten. Somit würde der Datierungsvorschlag erhärtet, der sich bereits durch die Einordnung der Maßwerkformen abzeichnete.
 
 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dehio-Cremer I 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen I, Regierungsbezirke Gießen und Kassel, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008

Ellwardt 2001. Ellwardt, Kathrin: Vom Minoritenkloster zur evangelischen Pfarrkirche – Die Stadtkirche in Fritzlar. Führer zu Geschichte und Kunst, Fritzlar 2001

Humbach 2005. Humbach, Rainer: Dom zu Fritzlar, Petersberg 2005

Liebenswertes Fritzlar 1999. Liebenswertes Fritzlar: Jubiläumsband zum 1275jährigen Bestehen der Stadt Fritzlar; mit Stichen, Ölgemälden und Zeichnungen, hrsg. von Norbert Balli, Fritzlar 1999
 


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

233 beispielsweise auf einem Schlussstein von St. Stephan in Mainz, der heute im Kreuzgang liegt (Abb. 186).
234 Diese verdanken sich jedoch einer Renovierung der Jahre 1929/30, die wohl das Erscheinungsbild vor dem Umbau des 19. Jahrhunderts wiederherstellen sollte (Ellwardt 2001, S. 27-28). Eine vor 1829 entstandene aquarellierte Bleistiftzeichnung, die sich heute im Regionalmuseum Fritzlar befindet, zeigt nur über dem 1. und 4. Joch Zwerchdächer (Abb. 200).
235 Humbach 2005, S. 92-97
236 Humbach 2005, S. 94. Ellwardt 2001, S. 11 datiert anhand der Bauformen auf die 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts
237 Dehio-Cremer I 2008, S. 268, ohne Angabe von Gründen
 
Abb. 185-197, 199: Schmelz, Annette 2008
Abb. 198: Ellwardt 2001
Abb. 200: Liebenswertes Fritzlar 1999

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

 

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

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