urbs-mediaevalis.de

8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.1.2.3.2 Kapitelle der kantonierten Pfeiler

 
Die Dienstkapitelle der frühgotischen Alsfelder Walpurgiskirche haben sich in der Längsachse der Kirche und Richtung Mittelschiff erhalten.194 Sie erheben sich über einem geschärften Halsring. Ihre Höhe liegt zwischen 0,37 m und 0,41 m.195
In der Mainzer Christophskirche sind die Kapitelle weitgehend einer neugotischen Restaurierung geschuldet, lediglich geringe Reste des alten Blattschmucks haben sich erhalten. Die ursprünglichen Kapitelle haben die gleiche Höhe wie in Alsfeld.196 Am südöstlichen Pfeiler zieren flache, gezackte und stark stilisierte Blätter das Kapitell (Abb. 158).197 Am nordwestlichen Pfeiler wachsen herzförmige, versetzt angeordnete Blätter aus einer Rispe (Abb. 159). Die Ranke mit den stilisierten Blättern zieht sich sowohl über das Kapitell des Rundpfeilers als auch über die Dienstkapitelle.
 
 
Abb. 158: Mainz, St. Christoph, Kapitell am südöstlichen Pfeiler, Zeichnung von
Nitschke [+]
  Abb. 159: Mainz, St. Christoph, Kapitell am nordwestlichen Pfeiler [+]

 

In Alsfeld dagegen scheint eine strenge Trennung zwischen dem Kapitell des Rundpfeilers und den geschmückten Dienstkapitellen vorzuliegen, doch offenbaren sich im Bereich der Rundpfeilerkapitelle bei genauer Betrachtung die Spuren von Abarbeitungen und Übermalungen.  Besonders deutlich wird dieser Befund am Dienstkapitell B4-ost. Fotografische Aufnahmen mit Streiflicht zeigen Abarbeitungen rechts und links des Dienstkapitelles, die jeweils die Form eines Blattes haben (Abb. 160). Die fünf stilisierten Blätter des Dienstkapitelles griffen ursprünglich beidseitig auf das Kapitell des Rundpfeilers über. Bei Kapitell C3-ost finden fünf Blätter auf dem Dienstkapitell nicht ausreichend Platz, so dass jeweils ein halbes Blatt auf das Kapitell des Rundpfeilers überlappt (Abb. 161). Im Gegensatz zu den anderen Kapitellen wurde das Blatt hier aber nicht abgearbeitet, sondern nur übermalt. Eine strikte Trennung zwischen Dienstkapitell und ungeschmücktem Rundpfeilerkapitell war demnach ursprünglich nicht intendiert, sondern wurde erst durch spätere Abarbeitungen herbeigeführt. Vielleicht störte man sich daran, dass die Schmuckformen nur ein kleines Stück auf das Kapitell des Rundpfeilers überlappten, und in der Tat ist diese Lösung ungewöhnlich. In der Marburger Elisabethkirche wurden die kantonierten Pfeiler der Hallenkirche mit einem schmalen Kämpferband geschmückt, das durch umlaufenden Laubwerkschmuck gekennzeichnet ist. Die hessischen Hallenkirchen haben diese Form des umlaufenden Kämpferbandes übernommen.
 
 
Abb. 160: Walpurgiskirche, Dienstkapitell B4-ost, Streiflicht-Aufnahme [+]   Abb. 161: Walpurgiskirche, Dienstkapitell C3-ost, Streiflicht-Aufnahme [+]

 

 
  Die Dienstkapitelle in Alsfeld sind, mit  Ausnahme eines Kapitells unter der Westempore,  Zungenblatt- und Kelchknospenkapitelle, der Blattkranz ist einreihig angeordnet. Vorbilder finden sich in den bereits angesprochenen frühgotischen Knollen-, Knospen- und Zungenblattkapitellen in der Nordkonche der Marburger Elisabethkirche (Abb. 126a). Ein Marburger Zungenblattkapitell konnte bereits als mögliches Vorbild für das Alsfelder Chorkapitell bestimmt werden, und auch die Zungenblätter der Dienstkapitelle C2-ost und C3-west (Abb. 162) stehen in dieser Tradition.
Abb. 126a: Marburg, Elisabethkirche, Nordkonche, Fenster mit eingestellten
Säulchen und frühgotischen Kapitellen [+]
 

 

 
Abb. 162: Walpurgiskirche, Dienstkapitell C3-west [+]   Abb. 163: Walpurgiskirche, Dienstkapitell B3-ost [+]

 

Weniger eindeutig fällt die Suche nach dem Vorbild für die bandartigen Knospenträger aus. Das Alsfelder Dienstkapitell B3-ost (Abb. 163) scheint mit einem solchen Band geschmückt, aus jeder Spitze erwachsen zwei Knospen. Als Vorbild könnte wiederum ein Dienstkapitell aus den Fenstern der Elisabethkirche gedient haben (Abb. 126a). Bandträger mit paarweise angeordneten Knospen schmücken auch das Kapitell des dritten Pfeilers von Osten in der nördlichen Pfeilerreihe der Kölner Minoritenkirche, allerdings sind die Knospen hier nicht als glatte Kugeln ausgebildet, sondern spiralig gedreht (Abb. 150). Sowohl in Marburg als auch in Köln verlaufen die Bandträger im Zickzack, während sie in Alsfeld in Höhe der Knospen ausgebogt erscheinen. Möglicherweise täuscht in der Walpurgiskirche die Farbfassung. Wären die dreieckigen Aussparungen unterhalb der Knospen farbig ausgefüllt, so läge kein bandartiger Knospenträger vor, sondern Blätter aus drei Kompartimenten, aus deren beiden äußeren sich jeweils eine kugelige Knospe entwickelte. Eine ähnliche Blattform kennen wir aus dem Arnsburger Kapitelsaal (Abb. 125).
 
 
Abb. 150: Köln, Minoritenkirche, Profilwechsel der Arkade im 3. Joch von Osten [+]   Abb. 125: Kloster Arnsburg, Kapitelsaal, Kapitell [+]

 

Das Alsfelder Dienstkapitell C4-ost ist eindeutig mit einem zickzackförmigen Bandträger geschmückt, an dessen Spitzen dreilappige Blättchen überfallen (Abb. 164). Dieses Kapitell scheint vergleichbar mit Kapitellen im linken Gewände des frühgotischen Nordportals in Geißnidda, das aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt (Abb. 165).198 In Alsfeld bleibt der Bandträger glatt, in Geißnidda ist er dagegen mit stilisierten Blättchen geschmückt.
Das Kapitell des mittelschiffsseitigen Dienstes B3-süd wird ebenso von einem Bandträger geziert, die Blattbüschel bestehen aus jeweils drei in der Blattachse eingeknickten Blättchen, die zwischen sich ein kleines „Auge“ freilassen (Abb. 166). Diese Augenbildung ist ein typisches Kennzeichen einiger Knospenblätter in der Marburger Elisabethkirche (Abb. 167).199
 
 
Abb. 164: Walpurgiskirche, Dienstkapitell C4-ost [+]   Abb. 165: Geißnidda, Pfarrkirche, Nordportal, östliches Gewände [+]
     
 
Abb. 166: Walpurgiskirche, Dienstkapitell B3-süd [+]   Abb. 167: Marburg, Elisabethkirche, Dienstkapitelle zwischen Südkonche und
Südseitenschiff [+]

 

Das unter der Westempore gelegene Dienstkapitell C2-west unterscheidet sich in seiner elaborierten Formensprache von den übrigen, eher plumpen Dienstkapitellen der frühgotischen Alsfelder Basilika. Über dem geschärften Halsring steigen vier Stängel auf, an denen in relativ naturähnlicher Form Blätter zu wachsen scheinen, die an Eichenblätter erinnern (Abb. 168). Während die unteren Blätter flach am Kelch des Kapitelles anliegen, bestimmen die dickeren oberen Blätter die Form des Kapitelles. Die seitlichen Blätter der Zweige neigen sich zueinander, ihre Bogenform bildet den Abschluss des Kelches. Die Spitzen der mittleren Blätter bilden Ecken und leiten so zur rechteckigen Form des Kämpfers über.
Ausweislich seines Standortes unter den erhaltenen frühgotischen Arkaden unterhalb der Westempore scheint das Kapitell bauzeitlich zu sein.
 
 
Abb. 168: Walpurgiskirche, Dienstkapitell C2-west [+]   Abb. 169: Geißnidda, Pfarrkirche, östliches Obergadenkapitell [+]

 

Ein Blick in die evangelische  Pfarrkirche von Geißnidda stützt diese These. Die  östlichen Kapitelle des Obergadens (Abb. 169) sind in mancherlei Hinsicht vergleichbar mit dem zuvor beschriebenen Alsfelder Kapitell.
Auch in Geißnidda steigen über dem geschärften Halsring Blattbüschel auf, die Form der Blätter erinnert an Efeu. Wie in Alsfeld übernehmen die Blätter die Aufgabe, vom Kelch des Kapitelles zum rechteckigen Kämpfer zu vermitteln, indem sie sich unterhalb der Ecken des Kämpfers zusammenballen und sehr dick ausgebildet sind, während sie sich an den übrigen Stellen flach anschmiegen.

Stilistische Vergleiche lassen die Geißniddaer Kelchkapitelle mit ihrem appliziertem Blattschmuck jünger erscheinen als die bandartigen Knospenträger und die dem niederrheinischen Palmettenstängel verpflichteten Kapitelle der Pfeilerdienste. Dehio ist sicher zuzustimmen, wenn er sie in das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts datiert.200 Für das vergleichbare Alsfelder Kapitell ist der gleiche Zeitrahmen anzunehmen. Vielleicht ist es etwas jüngeren Datums als die Zungenblatt- und Kelchknospenkapitelle. Daraus ließe sich jedoch nicht auf einen Baufortschritt von Osten nach Westen schließen, denn das Kapitell der nördlichen Pfeilerreihe unterhalb der Westempore, B2-west, zeigt mit seinen runden Blättern und dem Blattüberfall an den Spitzen eher grobe Formen.
 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Zeichnungen der Ausgrabung 1971/72 Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Außenstelle Marburg, Archiv der Abteilung Baudenkmalpflege

Dehio-Cremer II 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen II, Regierungsbezirk Darmstadt, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008

Kita 2008. Kita, Birgit: St. Christoph in Mainz und die Bettelordensarchitektur, in: Magister operis. Beiträge zur mittelalterlichen Architektur Europas. Festgabe für Dethard von Winterfeld zum 70. Geburtstag, Regensburg 2008, S. 53-78 

Nitschke 1957. Nitschke, Heinrich: Untersuchungen zur Baugeschichte der St. Christophskirche, in: Mainzer Zeitschrift – Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, 52, 1957, S. 28-37

Walbe 1913-1928. Walbe, Heinrich: Baudenkmäler in der Provinz Oberhessen, in: Jahresbericht der Denkmalpflege im Volksstaat Hessen, 4a, 1913-1918, S. 149-308

Wilhelm-Kästner 1924. Wilhelm-Kästner, Kurt/Hamann, Richard: Die Elisabethkirche zu Marburg und ihre künstlerische Nachfolge, 2 Bde., Marburg 1924-1929, Bd. 1, 1924


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

194 Allerdings wurden im Rahmen der Restaurierungsarbeiten der Jahre 1913/14 nicht nur die Dienste an den nördlichen Pfeilern und einem Teil der südlichen Pfeiler erneuert, auch „einige Kapitelle“ wurden „genau den beschädigten Originalen nachgebildet […] Ausbesserungen dieser Art [waren] in großem Umfang nötig.“ (Walbe 1913-1928, S. 153)
195 Maße auf dem handgezeichneten Riss der Ausgrabung 1971/72 vermerkt.
196 0,37 m nach Nitschke 1957, S. 35
197 Kita bezeichnet sie als eine Art Distelblattschmuck. (Kita 2008, S. 60)
198 Dehio-Cremer II 2008, S. 348
199 Wilhelm-Kästner 1924, S. 11
200 Dehio-Cremer II 2008, S. 348
 
 
Abb. 125, 126a, 150, 159-166, 168, 169: Schmelz, Annette 2008
Abb. 158: Nitschke 1957
Abb. 167: Wilhelm-Kästner 1924

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche
Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

print