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8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.1.2.2.2 Evangelische Pfarrkiche in Geißnidda

 
Die Pfarrkirche von Geißnidda in der Wetterau (Abb. 136) steht der Alsfelder Walpurgiskirche sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht nahe.
 

Abb. 136: Geißnidda, Pfarrkirche, von Süden [+]


 
  Die Kirche des kleinen Ortes wurde wahrscheinlich im Zuge einer um 1230 belegten Nikolauswallfahrt ausgebaut.165 Eine dreischiffige Basilika zu drei Jochen wurde über den Mauern eines Vorgängerbaus gebaut, wodurch der Turm aus der Mittelachse rückte (Abb. 137). Während die Datierung des Turmes dendrochronologisch gesichert festgeschrieben werden kann,166 ist das Langhaus nicht sicher zu datieren. Kögler datiert in Anlehnung an Michlers Datierung der Walpurgiskirche auf das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts.167 
 

Wie in Alsfeld erfolgte in Geißnidda in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Chorneubau, er ist dendrochronologisch gesichert bis um 1367 errichtet worden.168 Im Gegensatz zur Alsfelder Walpurgiskirche wurde jedoch der Chor in seiner Höhe dem Mittelschiff angeglichen. Das Langhaus wurde nicht hallenartig erhöht, so dass sich in Geißnidda eines der wenigen Beispiele einer frühgotischen Basilika des oberhessischen Kunstraumes erhalten hat.

Abb. 137: Geiß-Nidda, Pfarrkirche, Grundriss, Zeichnung von Johannes Kögler [+]


Der Innenraum des Langhauses zeigt ebenfalls eine gewisse Schwere und Gedrungenheit der Bauformen. Vier Freipfeiler tragen die Obergadenwand, das westliche Pfeilerpaar hat einen quadratischen Grundriss, die östlichen Pfeiler sind als Rundpfeiler ausgebildet, alle Pfeiler sind von je vier runden Diensten umstanden (Abb. 138 und 139).

 
Abb. 138: Geißnidda, Pfarrkirche, Langhaus nach Süden [+]   Abb. 139: "Die Kirche zu Geissnidda: Längsdurchschnitt". Stich aus: Ernst Gladbach, Denkmäler der deutschen Baukunst, Band 3, Darmstadt 1844-45, Tafel XVII. [+]

 

Die Dienstkapitelle enden in rechteckigen Kämpfern. Die spitzbogigen Arkaden und  Unterzüge sind von einfachem rechteckigem Querschnitt. Die mittelschiffsseitigen Dienste schneiden die Pfeilerkämpfer und werden ohne Unterbrechung bis zum Ansatz der Mittelschiffsgewölbe nach oben geführt. Die Sargwand ist verhältnismäßig hoch, die Gewölbekämpfer sind weit nach oben gerückt. Die spitzbogigen, relativ breiten Fenster des Obergadens sind einer Renovierung des 19. Jahrhunderts geschuldet.  Die alten, ebenfalls spitzbogigen, aber wesentlich schmaleren Fenster haben sich jedoch an den östlichen Stirnseiten der Seitenschiffe erhalten (Abb. 140), ein Fenster ist heute im Heizungsanbau eingebaut.169

 
Abb. 140: Geißnidda, Pfarrkirche, Südseitenschiff, nach Osten [+]
 
 

Die Seitenschiffe sind in Geißnidda kreuzgratgewölbt mit breiten Gurten und kantigen Schildbögen. An den Außenwänden sitzen alle Gewölbeglieder auf Konsolen. Die starken Gurtbögen sind, bedingt durch die geringe Breite der Seitenschiffe, spitzbogig gestelzt.

Ein Vergleich des rekonstruierten Grundrisses der frühgotischen Alsfelder Basilika (Abb. 9) mit dem Grundriss von Geißnidda (Abb. 137) offenbart Gemeinsamkeiten. Die Mittelschiffsjoche sind stark queroblong, die Seitenschiffsjoche dagegen leicht längsrechteckig. Die Breite der Seitenschiffe beträgt weniger als die Hälfte der Mittelschiffsbreite.

     
Abb. 9: Walpurgiskirche, frühgotische Basilika, Rekonstruktion des Grundrisses
von Mengel [+]

 

Auch die von vier Diensten umstellten Pfeiler und insbesondere das östliche Rundpfeilerpaar in Geißnidda scheinen eine Gemeinsamkeit mit der frühgotischen Alsfelder Basilika zu implizieren, zumal sie über das nicht so häufige Motiv des durchgehenden mittelschiffsseitigen Dienstes verbunden sind. Ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass dem kantonierten Pfeiler von Geißnidda eine andere Auffassung zugrunde liegt als in Alsfeld.
Die Rundpfeiler verbreitern sich über Wulst, Kehle und Wulst zu einem glatten Kapitell, das einen etwas größeren Durchmesser hat als der Pfeilerschaft. Die Runddienste  werden durch das auskragende Kapitell des Rundpfeilers auf Abstand vom Pfeilerschaft gehalten, so dass man zwischen Pfeilerschaft und Runddienst hindurchsehen kann (Abb. 141). Über einem umlaufenden geschärften Halsring verkröpft sich das Kapitellband über Pfeilerkern und Dienstkapitelle. Auffällig ist, dass die Kapitelle in eckige Kämpfer übergehen. Diese ungewöhnliche Lösung lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass das östliche Rundpfeilerpaar als Variation des westlichen Pfeilerpaares mit seinem quadratischen Pfeilerkern entwickelt wurde. (Abb. 142). Da in Geißnidda der Baufortschritt von Westen nach Osten erfolgte,170 läge eine solche Entwicklung bauhistorisch im Bereich des Möglichen.
Insgesamt wirkt der kantonierte Pfeiler in Geißnidda zierlicher als in Alsfeld. Allerdings sind die Proportionen der Pfarrkirchen von Homberg/Ohm und Geißnidda auch nicht mit der Alsfelder frühgotischen Walpurgiskirche zu vergleichen.
 
 
Abb. 141: Geißnidda, Pfarrkirche, kantonierter Rundpfeiler [+]  

Abb. 142: Geißnidda, Pfarrkirche, Pfeiler der Nordseite [+]

 
 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dehio-Cremer II 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen II, Regierungsbezirk Darmstadt, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008

Kögler 1992. Kögler, Johannes: Die evangelische Pfarrkirche von Geiß-Nidda, in: Wetterauer Geschichtsblätter, 41, 1992, S. 5-45

Mengel 1994. Mengel, Karl A.: Die Walpurgiskirche zu Alsfeld. Versuch einer Deutung der Entstehungsgeschichte der Alsfelder Hauptkirche, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 15, 1994, Nr. 2, S. 14-44


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

165 Dehio-Cremer II 2008, S. 348
166 Turmuntergeschosse um 1204, zweites Arkadengeschoss 1212 (+/- 4 Jahre), Glockengeschoss und Helm um 1445 (Dehio-Cremer II 2008, S. 348)
167 Kögler 1992, S. 42, Anm. 19 und 22
168 Kögler 1992, S. 31
169 Kögler 1992, S. 10
170 Kögler 1992, S. 17
 
Abb. 9: Mengel 1994
Abb. 136, 138, 140-142: Schmelz, Annette 2008
Abb. 137, 139: Kögler 1992

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche
Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

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